Rückschau:
Polen- Wo Warschau vietnamesisch ist
Sendeanstalt und Sendedatum: WDR, Sonntag, 25. Oktober 2009
Wir sind in Praga, einem eher ärmeren Stadtviertel
Warschaus, und schauen im Oktobernebel auf die
Skyline. Hier, wo die Baukräne stehen, wird seit
einigen Wochen das neue Nationale Fußballstadion für
die nächste Europameisterschaft gebaut. Direkt
daneben liegt das, was im Volksmund Klein-Vietnam
heißt. Ein großer Markt, auf dem es billig alles
gibt. Wirklich alles.
Vietnamesen sind die einzig große Ausländergruppe.
Sie kommen in Scharen. Polen gilt als das gelobte
Land, weil viele in Vietnam katholisch sind und hier
mit der Gewerkschaft Solidarność der Kampf gegen den
Kommunismus begann. Davon träumen sie bis heute in
der Sozialistischen Volksrepublik Vietnam. Genaue
Zahlen kennt niemand, aber mindestens 30.000
vietnamesische Flüchtlinge soll es in Polen geben,
die meisten sind illegal. Von einem polnischen
Menschenrechtler des Verbandes „Freies Wort“, der
sich besonders um die illegalen Vietnamesen kümmert,
erfahren wir Details.
Robert Krzysztoń, Verband „Freies Wort”
„Es ist eine Falle: Die Reise nach Polen wird von
der vietnamesischen Mafia organisiert. Die
Flüchtlinge werden nach Moskau gebracht, das ist
einfach. Da nimmt man ihnen die Papiere ab,
angeblich, weil ein polnisches Visum eingestempelt
werden soll. Dann erfahren sie, dass es
Schwierigkeiten gibt, sie sollen weitere 10 bis
15.000 Dollar zahlen. Die haben sie nicht, ihr Paß
ist weg – und dann werden sie auf Kredit nach Polen
gebracht. Jetzt haben sie gewaltige Schulden, sie
müssen lebenslang zurückzahlen. Ein Vietnamese
könnte sechs Richtige im Lotto haben, der
Geldeintreiber der Mafia stünde trotzdem jeden Monat
vor der Tür.“
Es ist schwer, diese Bilder hier auf dem
Vietnamesenmarkt zu drehen. Niemand traut uns, die
meisten laufen vor der Kamera davon. Viele hier
sprechen auch nach Jahren kein Wort Polnisch. Wir
lernen Ngan kennen. Die 45jährige betreibt hier auf
dem Markt eine rollende Küche. Ein Uhr nachts
beginnt ihr Tag.
„Ich mußte vor neun Jahren fliehen, aus Angst vor
Repressalien. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Mein
Mann und die Kinder sind in Vietnam geblieben. Ich
sehne mich nach ihnen, aber hier in der Küche – und
ich arbeite 17 Stunden täglich sieben Tage die Woche
– habe ich keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich
verdiene nicht viel, aber wenn ich spare, kann ich
mir einmal in der Woche ein Telefonat nach Hause
leisten. Aber jetzt muss ich gehen, ich muss doch
mein Essen verkaufen ...“
Wir begleiten Ngang, brechen aber diese Aufnahmen
nach wenigen Minuten ab. Denn Ngang verkauft nichts,
wenn wir dabei sind. Sie ist sauer: „Haut ab, ihr
schadet meinem Geschäft“, schimpft sie. Später
erfahren wir, warum hier alle Angst haben und welch
unrühmliche Rolle die vietnamesische Botschaft in
Warschau spielt. Am Abend treffen wir uns am
Stadtrand mit einem verdeckten Polizei-Ermittler im
Vietnamesen-Milieu.
„Es ist Angst vor der Mafia. Da kommen reiche
Geschäftsleute mit viel illegalem Geld aus Vietnam,
das soll hier gewaschen werden. Also kaufen sie in
Polen Firmen auf und investieren. Es gibt enge
Verbindungen zur vietnamesischen Regierung und zu
Mitarbeitern der Botschaft hier in Warschau. Es ist
organisierte Kriminalität, eine Mafia-Struktur.“
Und die Mafia lässt nicht mit sich spaßen. Die
illegalen Flüchtlinge zahlen an die Bosse, die haben
so ihre Methoden.
„Bei den Vietnamesen werden nie schriftliche
Verträge unterzeichnet. Es gilt das Wort. Wenn dann
einer Geld nicht zurückzahlen will, wird er entführt
und solange gequält, bis er zahlt.“
Ein polnischer Journalist hat Jahre recherchiert, um
die Mauer des Schweigens aufzubrechen. Inzwischen
hat er in polnischen Zeitungen veröffentlichen
können, was auf dem Vietnamesen-Markt passiert.
Ton Leszek Szymowski, Journalist
„Jeder Händler auf dem Markt muss Schutzgeld zahlen,
das ist das Prinzip. Egal, ob hier einer Schuhe oder
Klamotten verkauft oder einen Imbiss betreibt, er
zahlt jeden Monat Erpressungsgeld. 100 bis 150
Dollar. Sonst fackeln sie ihm die Bude ab. Wenn sie
zahlen, sind sie davor geschützt und vor anderen
Gangstern.“
In der Küche eines Restaurants fass einer der
Illegalen Vertrauen zu uns und erzählt seine
abenteuerliche Fluchtgeschichte. Nguyen hat Monate
für die Reise von Vietnam nach Warschau gebraucht.
„Erst wollte ich über Moskau ausreisen. Dann boten
sie mir an, zu Fuß über die grüne Grenze nach China
zu gehen. Ich hab dem Schlepper geglaubt, saß dann
ewig in einem Güterzug und dann in einem Karton in
einem LkW. Der fuhr nach Kiew in der Ukraine. Wir
wurden an die polnische Grenze gebracht – und dann
nachts rüber, als die nicht aufpassten. Sie fuhren
uns nach Warschau zu dem Vietnamesenmarkt, da haben
sie mich aus dem Auto geschmissen und mich einfach
stehengelassen.“
Wir fragen ihn, wo die Vietnamesen wohnen. Die
Antwort ist einfach: Einer mietet irgendwo im
Plattenbau Warschaus eine Wohnung, zehn Freunde
ziehen mit ein. Auf 12 Quadratmetern leben hier elf
Menschen.
„Ich existiere nicht, ich stehe außerhalb des
Rechtssystems. Der kommunistische vietnamesische
Geheimdienst verfolgt mich auch hier in Polen noch.
Die versuchen, mich einzuschüchtern. Alle paar Tage
kommt einer vorbei und warnt mich, mich politisch
als Regimegegner zu betätigen. Damit ich das ernst
nehme, schlagen sie mich einmal im Monat auch
zusammen.“
Manche Flüchtlinge kommen auch per Flugzeug mit
gefälschten Papieren aus Moskau. Zweimal am Tag
landet die Aeroflot in Warschau. Die Papiere sind so
wertvoll, dass vietnamesische Flüchtlinge noch nicht
einmal sterben können. Auf polnischen Friedhöfen
gibt es keine Gräber von ihnen. Die Polizei hat das
lange verwirrt.
Dariusz Loranty, Polizei Warschau
„Vietnamesen – so merkwürdig das klingt - sterben
nicht, es gibt nie Beerdigungen. Vor ein paar Jahren
haben wir bei der Warschauer Polizei ernsthaft
vermutet, dass es Kannibalismus geben muss. Jeder
Mensch stirbt doch und muss beerdigt werden. Dann
fanden wir heraus, dass eine Leiche einfach irgendwo
am Stadtrand von Warschau im Wald verscharrt wird,
damit die Mafia die Identität der Toten weiternutzen
kann. Da kommt ein neuer Flüchtling aus Vietnam,
nennt sich so wie der Tote, das kann niemand
nachweisen. Und wir können die Vietnamesen ja nicht
voneinander unterscheiden.“
In den letzten zehn Jahren haben nur noch 800
Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt, alle wurden
von Polen abgelehnt. Wie mit den Vietnamesen
umgegangen wird, ist menschenverachtend und grausam.
Aber am Ende unserer Recherchen hören wir unfassbare
Gerüchte.
Robert Krzysztoń, Verband „Freies Wort”
„Es gibt eine Sache, die sich nicht beweisen lässt,
in Zusammenhang mit den Vietnamesen, die aber
existiert. Ich rede von Organhandel. Die Mafia holt
die Menschen nach Polen und benutzt sie als lebende
Kühlschränke. Es sind junge und gesunde Menschen.
Die gehen allein auf die Reise, werden aber streng
bewacht. Dann werden sie getötet und die Organe
entnommen. Alle Spuren werden sehr sorgfältig
verwischt. Hinterher sind die Menschen verschwunden,
es bleiben nur Gerüchte. Wir wissen nicht, wie viele
es sind, aber die Informationen sind absolut
glaubwürdig.“
Für die mindestens 30.000 illegalen Vietnamesen in
Polen hat sich ihr gelobtes Land in vielen Fällen
als die Hölle auf Erden herausgestellt. Mitten in
Europa macht die vietnamesische Mafia mit diesen
Menschen offensichtlich, was sie will.
Bericht Ulrich Adrian